Für Historiker wieTimothy Brook, Jonathan Spence und Lü Simian besitzt insbesondere das 20.Jahrhundert eine ausschlaggebende Wichtigkeit für den ModernisierungsprozessChinas.
Geprägt von turbulenten Ereignissen und folgenschweren Umbrüchen warendie wenigen Jahrzehnte nach dem Jahrhundertwechsel ein Zeitraum, in dem Chinasich neu erfinden und erschaffen musste. Der Auftakt eines solchen kulturellenWandels und einer intellektuellen Neuorientierung, die China in bemerkenswerterWeise auf den Weg zu einer Weltmacht der Postmoderne verhalf, ist nicht zuletztin der Protestbewegung der ca. dreitausend Studenten gegen den VersaillerVertrag im Jahre 1919 zu finden, die zeitweilig das ganze Land in Aufruhrbrachte und sich angesichts der großen Resonanz landesweit zu der erstenpolitischen Massenbewegung in der Geschichte Chinas ausformte1. Die Entstehungsphase der jungen Republikinfolge des zerfallenen letzten Kaiserreiches war gekennzeichnet durch dendringenden Wunsch nach einer grundlegenden Revision der normativ-ontologischenGeisteshaltung der Chinesen, der in erster Linie von progressiven, kritischenIntellektuellen gehegt wurde. Ereignisse wie die Selbsterstarkungsbewegung von1861 und 1895, nach den für China katastrophalen Opiumkriegen, spiegeltenbereits ein Bestreben der Bevölkerung wider, sich tendenziell von der antiquiertenvorindustriellen Gesellschaftsstrukturder Kaiserdynastien zu lösen und sich den Herausforderungen der Moderne zustellen, die durch den Kontakt mit der westlichen Hemisphäre entstanden waren.2Gezwungen, sich mit fremden Mächten politisch, ökonomisch und militärischauseinanderzusetzen, zerbrach das sino-zentralistische Weltbild des Altertumsund die geistige und materielle Existenz Chinas erfuhr in Zeiten tiefgreifenderUmwälzung einen unvergleichlichen Wandel. Die Demütigung, die China durch diewestlichen Imperial Mächte erfuhr und der Sturz vom selbsternannten „Reich derMitte” auf den Status einer Halbkolonie, bildeten dramatischeSchlüsselerfahrung für China, die sowohl die Außenpolitik als auch die SelbstwahrnehmungChinas bis in die heutige Zeit maßgeblich beeinflussten.
Für China bedeutetedies nicht nur eine gesellschaftsübergreifende Umgestaltung, sondern ebenfallseine ethische Neuordnung zur Konstruktion einer zukunftsträchtigen Identität. Die durch die Studentenproteste entstandeneMassenbewegung, auch bekannt als die 4. Mai Bewegung (???? Wusi Yundong), bildete einenZusammenschluss der geistig-literarisch-politischen Strömungen für eine NeueKultur zwischen 1915 und 1925 und hatte zum Ziel, China mit Hilfe westlicherWissenschaftsmethodik auf den Prüfstand des neuzeitlichen Fortschritts zu erheben,um im fortlaufenden Machtkampf internationalen Ausmaßes letztendlich aus der stigmatisierendenOpferrolle auszubrechen. Die tragende Idee dieser NeuenKulturbewegung war, dass China in allen Aspekten der politischen, sozialen undkulturellen Diskurse, vor allem in der epistemologischen Methodologie, denBlick nach Westen richten sollte3.
Die Suche nach einem universellen Wertegerüst in Anbetracht unbekannter Philosophiensollte in erster Linie durch eine revisionistische Aufarbeitung undNeuverwertung der eigenen traditionellen Ethik vollzogen werden. Dies läuteteeinen Entwicklungsprozess ein, den der Autor Zhang Junhua als den Anfang derchinesischen Aufklärung markierte, was primär damit zu begründen ist, dassChina durch die Konfrontation mit fremden Kulturen und der Entstehung der NeuenKulturbewegung zur einer kulturellen Revolution und politischen Reformierung gezwungenwurde4. In der folgenden Arbeit wird das besondereAugenmerk auf diese Entwicklung gerichtet, mit dem Fokus auf den Werdegang und dieideologischen Voraussetzungen der Neuen Kulturbewegung. Neben einer kurzenhistorischen Kontextualisierung der 4.
Mai Bewegung wird inhaltlich vor allemder Frage nachgegangen, welche Besonderheiten die Argumentationen der tragendenIntellektuellen dieser Strömung in sich tragen. Genauere Untersuchung gilt inerster Linie der Kritik am Konfuzianismus und der Erneuerung der Literatur, um schließlichdie Konzeption erörtern zu können, mit der insbesondere Hu Shi, der als einerder wichtigsten Vertreter des chinesischen Liberalismus gilt, dieModernisierung Chinas untermauerte. Die experimentalistischen Prinzipien5seiner pragmatisch-philosophischen Haltung zur Systematisierung und Empirisierungeiner dem „Nützlichkeitsdenken” verschriebenen Geschichtsevaluation und-Rekonstruktion werden ebenfalls vor dem Hintergrund des Zeitgeistesvergegenständlicht und kritisch analysiert.